Die Weimarer Republik wird immer wieder als 'Republik ohne Republikaner' bezeichnet. Ich bin mit diesem Ausdruck vorsichtig, weil er so klingt, als wären die Deutschen von vorneherein Gegner der Republik gewesen und deshalb hätte sie scheitern müssen. Das glaube ich nicht. Ich glaube, dass es, als die Weimarer Republik 1919 gegründet wurde, noch sehr viele Republikaner in Deutschland gab. 1932 gab es jedoch nicht mehr viele Menschen, die sich aktiv für die Republik engagierten und das trug stark zum Untergang der Weimarer Republik bei. Meiner Meinung nach wurde die Weimarer Republik also zu einer 'Republik ohne Republikaner'. In diesem Kapitel zeige ich, woran man das erkennen kann.

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Urheber: Bundesarchiv, Bild 102-13355
Reichspräsidentenwahl 1932 – drei Kandidaten und keiner davon ist ein Republikaner.
1.1 Das Wahljahr 1932
Im Jahr 1932 fanden zwei wichtige Wahlen in Deutschland statt: die Reichspräsidentenwahl am 13. März und 10. April und die Reichstagswahl am 31. Juli. Beide Wahlen waren für die Zukunft der Weimarer Republik entscheidend. Deshalb sehen wir sie uns genauer an.
1.2 Die Reichspräsidentenwahl
Der Reichspräsident war in der Weimarer Republik das Staatsoberhaupt und mit sehr großer Macht ausgestattet. Er ernannte den Regierungschef (konnte ihn also auch entlassen) und konnte in bestimmten Situationen das Parlament auflösen und mit sogenannten 'Notverordnungen' Gesetze ohne Zustimmung des Parlaments erlassen. Der Reichspräsident wurde direkt gewählt, also von allen Deutschen über 20 Jahren. Er hatte also viel größere Macht als beispielsweise ein heutiger Bundespräsident.
Zur Reichspräsidentenwahl 1932 traten drei Kandidaten an: Paul von Hindenburg, Adolf Hitler und Ernst Thälmann. Politisch gab es zwischen diesen Kandidaten große Unterschiede: Sie waren Monarchist, Nationalsozialist und Kommunist. Eines hatten sie aber gemeinsam: Alle drei lehnten das parlamentarische System der Republik ab und wollten es abschaffen oder umwandeln und durch ein autoritäreres System ersetzen. Es stand also bei der Wahl zum Staatsoberhaupt der Weimarer Republik kein Republikaner zur Wahl!
Galerie: drei Kandidaten

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Urheber: Bundesarchiv, Bild 183-R17289
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Der Monarchist: Paul von Hindenburg (1847–1934) war im Ersten Weltkrieg Generalfeldmarschall und an der Spitze der Obersten Heeresleitung gewesen. Für viele Deutsche war er ein Kriegsheld und der Herzenskandidat derjenigen, die sich den Kaiser zurückwünschten. Er hatte seine größten Erfolge als Befehlshaber unter dem Kaiser gehabt und seine Erfahrungen aus dieser Zeit wandte er auf das Amt des Reichspräsidenten an: Einer sagt, was getan werden soll und alle anderen gehorchen! Parlamentsdebatten und Parteienstreit verachtete er, die größte deutsche Partei SPD war ihm verhasst.

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Urheber: Bundesarchiv, Bild 102-13774 / Unknown Heinrich Hoffmann
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Der Nationalsozialist: Adolf Hitler (1889–1945) ging noch einen Schritt weiter. Seiner Meinung nach sollte die Republik abgeschafft und durch einen nationalsozialistischen Führerstaat ersetzt werden. Dieser sollte straff und militärisch organisiert sein, 'das Volk' sollte gestärkt, die 'Feinde des Volkes' bestraft werden. Wahlen, Parlamente, Menschenrechte – all dies war nach Hitlers Meinung 'undeutsch' und sollte beseitigt werden.

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Urheber: Bundesarchiv, Bild 102-12940
Der Kommunist: Ernst Thälmann (1886–1944) war ebenfalls ein Gegner von Parlamenten und Parteien. Er wollte eine Räterepublik nach sowjetischem Vorbild. In einer solchen 'Republik' hatte eine Partei – die Kommunisten – das Sagen. Als deutscher Kommunist verstand sich Thälmann als Genosse des sowjetischen Diktators Josef Stalin und wollte dessen Politik auch in Deutschland umsetzen.
Darstellung
Warum stellt die SPD keinen eigenen Kandidaten auf?
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Warum stellt die SPD keinen eigenen Kandidaten auf?
Die SPD war Anfang 1932 die stärkste Partei im Reichstag. Dennoch stellte sie zur Reichspräsidentenwahl keinen eigenen Kandidaten auf. Grund dafür war vor allem die Angst der SPD-Führung vor einem Wahlsieg Adolf Hitlers. Hitlers Partei NSDAP wurde Anfang der 30er-Jahre immer stärker und die SPD befürchtete, dass ein SPD-Kandidat dem Amtsinhaber Hindenburg Stimmen wegnehmen könnte und dieser so weniger Stimmen als Adolf Hitler bekäme. Also rief die SPD zur Wahl Hindenburgs auf und begründete dies mehr oder weniger damit, dass ein Präsident Hindenburg im Vergleich zu einem Präsident Hitler das kleinere Übel sei.
Aufgabe
Das kleinere Übel
Aufgabe
Das kleinere Übel
1 Erarbeiten Sie die Position Ossietzkys zur Reichspräsidentenwahl, insbesondere zum Kandidaten Hindenburg.2 Arbeiten Sie Ossietzkys Verhältnis zur SPD heraus.3 „Es ist besser, nicht zu wählen, als das kleinere Übel zu wählen!“ Erörtern Sie diese Behauptung. Beziehen Sie dabei sowohl Ihr Wissen zur Reichspräsidentenwahl 1930 als auch Überlegungen zur heutigen politischen Situation mit ein.
Quelle
Der republikanische Journalist Carl von Ossietzky über die Wahlen
Quelle
Der republikanische Journalist Carl von Ossietzky über die Wahlen
Immer wieder werde ich in Zuschriften von Lesern gefragt, wer denn am 13. März zu wählen sei. Bleibt denn nichts andres übrig, so heißt es immer wieder, als diese fatale, diese entmutigende Politik des „kleineren Übels“?
Ich bin kein Ratgeber auf dem Kandidatenmarkt, und wer einer Partei angehört, wird im Endkampf zwischen Disziplin und besserer Überzeugung durchweg der Disziplin den Vorrang geben. Gern hätte ich als parteiloser Mann der Linken für einen akzeptablen Sozialdemokraten wie Paul Loebe oder Otto Braun gestimmt. Da kein sozialdemokratischer Kandidat vorhanden ist, muß ich schon für den kommunistischen stimmen. Wahrscheinlich werden viele, die ähnlich denken, ebenso handeln.
Man muß festhalten: die Stimme für Thälmann bedeutet kein Vertrauensvotum für die Kommunistische Partei und kein Höchstmaß von Erwartungen. Linkspolitik heißt die Kraft dort einsetzen, wo ein Mann der Linken im Kampfe steht. Thälmann ist der einzige, alles andre ist mehr oder weniger nuancierte Reaktion. Das erleichtert die Wahl.
Die Sozialdemokraten sagen: Hindenburg bedeutet Kampf gegen den Faschismus. Von wannen kommt den Herren diese Wissenschaft? Der Kandidat betont nur seine Überparteilichkeit, in Sturmzeiten eine lebensgefährliche Formel. Da Propaganda und Farbengebung der Kandidatur Hindenburg ganz und gar in den Händen von Rechtsleuten liegt, so ist es auch völlig unmöglich, über Garantien zu disputieren, die man sonst von einem Kandidaten, einerlei ob Parteimann oder nicht, verlangt. Politik ist ein Frage- und Antwortspiel. Wo man das Recht zu fragen als grobe Ungebühr ablehnt, da mag ein Reich beginnen, das schöner und edler ist als das der Politik, aber, wie gesagt, die Politik hat dort aufgehört.
Es ist ein Unsinn, die Kandidatur Thälmann als eine bloße Zählkandidatur hinzustellen. Wahrscheinlich wird Thälmann eine überraschend hohe Stimmenzahl erzielen können. Das wird übrigens heute schon von bürgerlichen Politikern in privaten Unterhaltungen geäußert. Je besser Thälmann abschneidet, desto deutlicher wird demonstriert, welch einen Erfolg eine sozialistische Einheitskandidatur hätte haben können, was für Möglichkeiten noch immer bestehen. Auf diese Lektion kommt es an. Die Hindenburg-Koalition zwischen ausgedienten Hofdamen der Monarchie und kommenden Höflingen der diktatorialen Republik ist ein Produkt von Parteibureaus, die das Tastgefühl für die Schwankungen der Wählerschaft verloren haben. Deutschland hat in diesen Jahren zu viel gelitten, zu viel gehungert, um sich in seinen Entscheidungen von Pietät bestimmen zu lassen. Die Meisten haben nichts zu gewinnen, wohl aber eine verlorene Existenz zu rächen.
Garantien: Versprechen über die Politik, die Hindenburg nach seiner Wahl umsetzten wird
Hofdamen/Höflinge: hier in etwa: Fans, Freunde, Unterstützer
Produkt von Parteibureaus: Vorwurf an die Parteispitze der SPD die, anstatt einen eigenen Kandidaten aufzustellen, zur Wahl Hindenburgs (der die SPD hasste) als dem kleineren Übel aufgerufen hatten.
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Wer war Carl von Ossietzky?
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Wer war Carl von Ossietzky?
Carl von Ossietzky (1889–1938) gilt heute zusammen mit Kurt Tucholsky als der wichtigste republikanische Journalist der Weimarer Republik. Schon im Kaiserreich war er Mitglied der 'Demokratischen Vereinigung', wurde im Ersten Weltkrieg zum Pazifisten und arbeitete ab 1920 als Journalist für die 'Berliner Volks-Zeitung', ab 1924 für die 'Weltbühne'. 1927 wurde er Herausgeber der 'Weltbühne', einer Wochenzeitung, die sich als Sprachrohr des linken, republikanischen Bürgertums verstand und sich dabei sowohl von rechten Monarchisten als auch von radikalen Kommunisten abgrenzte.
1929 erschien in der Weltbühne der Artikel 'Windiges aus der deutschen Luftfahrt', in dem aufgedeckt wurde, dass die deutsche Reichswehr heimlich eine Luftwaffe aufbaute, was ihnen nach den Versailler Verträgen eigentlich verboten war. Der Autor des Artikels, Walter Kreiser, und Ossietzky als verantwortlicher Herausgeber wurden daraufhin wegen 'Geheimnisverrat' angeklagt – heute würde man sie wohl 'Whistleblower' nennen. Kreiser floh nach Frankreich, Ossietzky stellte sich der Justiz und wurde zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt.
Im Mai 1932 trat er die Haftstrafe an und wurde im Dezember desselben Jahres vorzeitig entlassen, im Zuge einer vom Reichspräsidenten verfügten allgemeinen Weihnachtsamnestie für minderschwere Vergehen. Im Februar 1933 wurde er allerdings von den mittlerweile an die Macht gekommenen Nationalsozialisten wieder eingesperrt und kam ins KZ Esterwegen, wo er schwer misshandelt wurde. 1936 erhielt Ossietzky den Friedensnobelpreis, zu diesem Zeitpunkt lag er schwer krank und unter Polizeibewachung in einem Berliner Krankenhaus. Am 4. Mai 1938 starb Ossietzky an einer Lungenentzündung, die er sich im KZ zugezogen hatte.
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Ergebnisse der Reichspräsidentenwahl 1932
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Ergebnisse der Reichspräsidentenwahl 1932
Kandidat | 1. Wahlgang (13. März) | 2. Wahlgang (10. April) |
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Paul von Hindenburg | 49,5 % | 53,1 % |
Adolf Hitler | 30,1 % | 36,8 % |
Ernst Thälmann | 13,2 % | 10,2 % |
Sonstige | 7,1 % | – |
Wahlbeteiligung insgesamt | 86,2 % | 83,5 % |
1.3 Die Reichstagswahl am 31. Juli 1932
Der Reichstag war das Parlament der Weimarer Republik. Hier wurden die gültigen Gesetze erlassen, der Staatshaushalt beschlossen und die Regierung gewählt – eigentlich. Tatsächlich hatte es 1932 schon zwei Jahre keine von einer Parlamentsmehrheit unterstützte Regierung mehr gegeben. Anstatt sich Mehrheiten im Reichstag zu suchen, regierten Reichspräsident Hindenburg und verschiedene von ihm ernannte Reichskanzler mit Notverordnungen. Stellte sich der Reichstag quer, wurde er vom Präsidenten aufgelöst.
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Verhältnis von Gesetzen und Notverordnungen 1930–1932
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Verhältnis von Gesetzen und Notverordnungen 1930–1932

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Urheber: Bundesarchiv, Bild 146-1978-096-03
Wahlkampf im Juni 1932
Das geschah auch 1932 und machte Neuwahlen notwendig. Das Ergebnis dieser Wahlen am 31. Juli war für die Demokraten katastrophal: Hitlers NSDAP wurde stärkste Partei im Parlament und die Gegner der Demokratie (die NSDAP und die kommunistische KPD) kamen zusammen auf über 50 % der Stimmen. Das bedeutete, selbst wenn sich alle demokratischen Parteien im Reichstag einig gewesen wären, hätten sie zusammen keine Mehrheit für eine demokratische Politik gehabt.
Ergebnisse der Reichstagswahl 1932 in Prozent
1.4 Das war nicht immer so
Die Weimarer Republik gab es 1932 aber schon 13 Jahre. Ihre ersten freien Wahlen fanden 1919 statt und sie erbrachten eine Mehrheit von über 75 % für klar demokratische Parteien. Nur Monate vorher war Deutschland noch eine Monarchie mit Kaiser gewesen und trotzdem bekamen die Monarchisten der DNVP nur 10,3 %. Die Weimarer Republik war also keineswegs als 'Republik ohne Republikaner' gestartet. Aber 1932 war sie offensichtlich zu einer geworden.
Ergebnisse der Wahl zur deutschen Nationalversammlung 1919 in Prozent
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Vertiefung: Alle Reichstagswahlen im Überblick
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Vertiefung: Alle Reichstagswahlen im Überblick
In der deutschen Wikipedia gibt es zu jeder Reichstagswahl einen eigenen Artikel. In diesen Artikeln werden die Ergebnisse der Wahl und die Veränderungen zur vorangegangenen Wahl immer oben rechts angezeigt. Dort befinden sich auch Links zur vorherigen (links) und darauffolgenden (rechts) Wahl. Auf diese Weise können Sie beispielsweise bei der Wahl 1919 beginnen und alle Wahlen bis 1932 der Reihe nach durchsehen.
Aufgabe
Veränderte Wahlergebnisse
Aufgabe
Veränderte Wahlergebnisse
Beschreiben Sie die Wandlung der Weimarer Republik zu einer 'Republik ohne Republikaner' anhand der Wahlergebnisse von 1919 und 1932. Beziehen Sie sich dabei auch auf die Ziele und Programme der Parteien in Punkt 16.