Quellen stammen aus der Vergangenheit, Darstellungen erzĂ€hlen auf Grundlage dieser Quellen Geschichte.Â
Diese Geschichten werden von Menschen erzĂ€hlt. Was erzĂ€hlt wird und wie es erzĂ€hlt wird, hĂ€ngt stark von den Sichtweisen und Absichten dieser erzĂ€hlenden Menschen ab. Damit ist klar: Es können sehr unterschiedliche ErzĂ€hlungen ĂŒber das gleiche Ereignis der Vergangenheit entstehen. Verunsichert dich das? Ich hoffe nicht, denn mit dieser Erkenntnis kann man viel ĂŒber Vergangenheit, die Gegenwart und sogar die Zukunft lernen.Â
1.1 Wiederholung: Vergangenheit und Geschichte, Quellen und Darstellungen
Wir starten zunÀchst mit einer kleinen Wiederholung. Die Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Geschichte und von Quellen und Darstellungen. Falls dir das alles noch völlig klar ist, kannst du direkt mit Kapitel 1.2 weiter machen.
Wiederholung
Vergangenheit und Geschichte
Wiederholung
Vergangenheit und Geschichte
Geschichten ĂŒber die Vergangenheit stellen niemals genau das vergangene Geschehen dar. Sie nĂ€hern sich dieser Vergangenheit an. Jeder kann solche Geschichten erzĂ€hlen. Und viele tun das auch. Dabei muss man auf Folgendes achten:
- Die Quellen, mit deren Informationen Geschichte erzÀhlt wird.
Sie sind geprĂ€gt von der Entstehungszeit, der Entstehungssituation und der Absicht der Autoren. (PerspektivitĂ€t) - Die sonstigen Informationen, die der ErzĂ€hler ĂŒber die Vergangenheit hat.
- Benutzt er tatsÀchlich alle Quellen, die das vergangene Ereignis beschreiben?
- Sind entscheidende Informationen verloren gegangen?
- Sind alle Sichtweisen auf das Ereignis ĂŒberliefert?
- Entsprechen die Informationen in den verwendeten Quellen tatsĂ€chlich der Wahrheit? (PartialitĂ€t) - Die Zeit, in der der ErzĂ€hler der Geschichte lebt und aus der er zurĂŒckblickt in die Vergangenheit.
- Es prĂ€gt den ErzĂ€hler, dass er immer 'nur' aus seiner eigenen Zeit zurĂŒckschauen kann. Die Einstellungen und Ideen seiner Zeit prĂ€gen ihn nĂ€mlich. Er kann nicht mit dem Kopf eines Königs oder Bauern aus dem Mittelalter denken.
- Er weiĂ auch, wie danach die Geschichte weiterging. Er hat Wissen, das die Menschen der Vergangenheit nicht hatten. Dieses Wissen und seine PrĂ€gungen ĂŒbertrĂ€gt er bewusst oder unbewusst auf die Vergangenheit und damit auch in seine Geschichte. (PartialitĂ€t) - Der ErzĂ€hler stellt Fragen an die Vergangenheit, die ihm in seiner Gegenwart wichtig erscheinen.
Damit lÀsst er bewusst oder unbewusst Informationen weg, die nicht zu seiner Fragestellung passen. (SelektivitÀt)
Noch nicht ganz klar, wie das mit Vergangenheit und Geschichte zusammenhÀngt? Vielleicht helfen dir diese Bilder weiter ...
Darstellung
Vertiefung: Der Historiker Yuval Harari ĂŒber die Rolle von Geschichten
Darstellung
Vertiefung: Der Historiker Yuval Harari ĂŒber die Rolle von Geschichten
Wie schaffte [der Mensch] es, StĂ€dte mit Zehntausenden Einwohnern und Riesenreiche mit Millionen von Untertanen zu grĂŒnden? Sein Erfolgsgeheimnis war die fiktive Sprache. Eine groĂe Zahl von wildfremden Menschen kann effektiv zusammenarbeiten, wenn alle an gemeinsame Mythen glauben. Jede groĂangelegte menschliche Unternehmung â angefangen von einem archaischen Stamm ĂŒber eine antike Stadt bis zu einer mittelalterlichen Kirche oder einem modernen Staat â ist fest in gemeinsamen Geschichten verwurzelt, die nur in den Köpfen der Menschen existieren. Glaubensgemeinschaften basieren auf diesen kollektiven Mythen.
Zwei Katholiken, die einander nie zuvor begegnet sind, verstehen einander ohne lange ErklĂ€rungen, weil beide glauben, dass es einen Gott gibt, der seinen Sohn auf die Erde geschickt hat, und dass dieser sich kreuzigen lieĂ, um die Menschheit von ihren SĂŒnden zu erlösen. [...] Konzerne basieren auf gemeinsamen wirtschaftlichen Mythen: Zwei Mitarbeiter von Google, die einander noch nie gesehen haben, können um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten, weil sie an die Existenz von Google, Aktien und Dollars glauben. Rechtsstaaten fuĂen auf gemeinsamen juristischen Mythen: Zwei wildfremde AnwĂ€lte können effektiv kooperieren, weil sie an die Existenz von Recht, Gesetz und Menschenrechten glauben. Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten, die wir Menschen erfinden und einander erzĂ€hlen. Götter, Nationen, Geld, Menschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht â sie existieren nur in unserer kollektiven Vorstellungswelt. Dass »primitive StĂ€mme« ihre Gesellschaft zusammenhalten, indem sie an Geister glauben und bei Vollmond um ein Feuer herumtanzen, verstehen wir sofort. Dabei ĂŒbersehen wir gern, dass die fortschrittlichen Institutionen unserer modernen Gesellschaft keinen Deut anders funktionieren.
Quellen sind alles, was aus der Vergangenheit ĂŒberliefert wurde: Urkunden, Briefe, Zeitungen, Bilder, ja sogar Kleider, HaushaltsgegenstĂ€nde und GebĂ€ude. Aber was wissen wir ĂŒber die Vergangenheit, wenn wir einen Brief aus dem 18. Jahrhundert in der Hand halten oder einen alten Wasserkrug betrachten? Genau: ZunĂ€chst recht wenig. Daher mĂŒssen wir die Quellen befragen, sie untersuchen. Wir mĂŒssen Methoden anwenden, um herauszubekommen, was Quellen uns berichten können. Man unterscheidet bei der Quellenanalyse die Ă€uĂere und die innere Analyse:Â
ĂuĂere Quellenanalyse: Hier fragst du nach allem, was das ĂuĂere der Quelle ausmacht, bis hin zur Art des Papiers und dem Ort, wo die Quelle gefunden oder gelagert wurde.
Innere Quellenanalyse: Hier fragst du nach dem Inhalt der Quelle, also danach, welche Informationen, Argumente und Meinungen die Quelle enthÀlt.
1.2 Wie Darstellungen von ihrer Entstehungszeit abhĂ€ngen: die sogenannte DolchstoĂlegende
Die DolchstoĂlegende war eine von der deutschen ArmeefĂŒhrung am Ende des Ersten Weltkrieges erfundene VerschwörungserzĂ€hlung, die den (sozial-)demokratischen Politikern und dem âbolschewistischen Judentumâ die Schuld an der Niederlage gab. Laut ArmeefĂŒhrung waren die Truppen âim Felde unbesiegtâ geblieben und hatten erst durch oppositionelle Zivilisten aus der Heimat einen âDolchstoĂ von hintenâ erhalten. Diese ErzĂ€hlung wurde zudem hĂ€ufig mit dem âinternationalen Judentumâ verbunden.Â
Nachdem du dich mit den Inhalten und dem Hintergrund der DolchstoĂlegende beschĂ€ftigt hast, kannst du dir jetzt ansehen, wie sie dargestellt und damit im Verlauf der Zeit interpretiert wurde. Im Folgenden findest du vier Ausschnitte aus SchulbĂŒchern, die das Ende des Ersten Weltkriegs behandeln. Gleiches Ereignis, unterschiedliche ErzĂ€hlzeiten. Spannend, oder?Â
Otto SchnitÂzer, DeutÂsche GeÂschichÂte fĂŒrs deutÂsche Volk (1929)
Und nun gingâs zum Abschluss des Waffenstillstands, den die deutschen UnterhĂ€ndler im Walde von CompiĂšgne mit Marschall Foch abschlossen. WĂ€hrend sie unterwegs waren, brach in Deutschland die Revolution aus. So standen sie vollends wehrlos dem Feinde gegenĂŒber; dieser konnte seine Forderungen so hochschrauben, als er wollte. Sie waren auch barbarisch hart.
Otto Schnitzer, Deutsche Geschichte fĂŒrs deutsche Volk. Stuttgart 1929, S. 463.
GeÂschichtsÂbuch fĂŒr die deutÂsche JuÂgend (1943)
Am 7. November [1918] wird in MĂŒnchen, am 9. in Berlin die Republik ausgerufen. Ohne auch nur Widerstand zu versuchen, treten die deutschen FĂŒrsten ab. Der oberste Kriegsherr, der letzte Kaiser aus dem groĂen Geschlecht der Hohenzollern, verlĂ€sst flĂŒchtend die Soldaten. An seine Stelle treten Marxisten. Sie lassen den Umsturz weiter um sich greifen. Munition und Verpflegung kommen nicht mehr an die Front. Nun erst muss sich Hindenburg den wahnwitzigen Bedingungen des Waffenstillstandes fĂŒgen. [...] Das deutsche Volk ist wehrlos! Jetzt können HaĂ und Vernichtungswille mit uns machen, was sie wollen.
B. Kumsteller/U. Haacke/B. Schneider, Geschichtsbuch fĂŒr die deutsche Jugend. Volksschulausgabe, Klasse 6-8, Leipzig 1943, S. 198f.
GeÂschichtsÂlehrÂbuch fĂŒr die 9. KlasÂse (DDR, 1984)
Das deutsche Heer war erschöpft, kriegsmĂŒde und begann sich zu zersetzen. Am 29. September [1918] musste die Oberste Heeresleitung erklĂ€ren, dass der Krieg verloren sei und die verzweifelte Lage des Heeres sofortigen Waffenstillstand erfordere. Damit endete nach mehr als vierjĂ€hrigem Völkermorden der Versuch des deutschen Imperialismus, Europa zu beherrschen und die Welt zu seinen Gunsten neu aufzuteilen, mit einer militĂ€rischen Niederlage.
Wolfgang Bleyer u.a., Geschichte. Lehrbuch fĂŒr die Klasse 9, Berlin 1984, S. 42.
GeÂschichÂte und GeÂscheÂhen (GeÂschichtsÂlehrÂbuch fĂŒr die SeÂkunÂdarÂstuÂfe I, 1996)
Seit dem Sommer 1918 Ă€nderte sich die militĂ€rische Lage. Die deutschen Truppen mussten vor den Alliierten immer weiter zurĂŒckweichen. Die VerbĂŒndeten Ăsterreich-Ungarn, Bulgarien und die TĂŒrkei standen ebenfalls am Rande des Zusammenbruchs. Die Oberste Heeresleitung forderte daher Ende September den baldigen Abschluss eines Waffenstillstands. Dieser sollte zu einem fĂŒr das Deutsche Reich maĂvollen Frieden fĂŒhren.
Ludwig Bernlocher u. a., Geschichte und Geschehen. D4, Geschichtliches Unterrichtswerk fĂŒr die Sekundarstufe I, Leipzig/Stuttgart/DĂŒsseldorf 1996, S. 779.
Aufgabe
- Trage die historischen HintergrĂŒnde zur sogenannten âDolchstoĂlegendeâ zusammen.
- Beschreibe die Absichten, die du hinter den vier Schulbuchtexten oben vermutest.
Hinweis:
Beachte die Zeit, in der die BĂŒcher entstanden sind. - Stelle ein aktuelles Thema dar, das du fĂŒr Ă€hnlich kontrovers hĂ€ltst wie das Ende des Ersten Weltkriegs mit der âDolchstoĂlegendeâ.
1.3 Wie aus Vergangenheit Geschichte erzÀhlt wird
Um zu verstehen, wie Geschichten wirken können, musst du verstehen, mit welchen Mitteln sie erzĂ€hlt werden. Die erzĂ€hlerischen Mittel sind dabei stark abhĂ€ngig vom Medium, mit dem sie erzĂ€hlt werden: Text, Film, Fotografie ...Â
In diesem Kapitel erkunden wir die erzĂ€hlerischen Mittel am Beispiel des Films. Viele hier gewonnene Erkenntnisse kannst du auf andere ErzĂ€hlformen ĂŒbertragen.
Aufgabe
- Sieh dir die zwei Kurzgeschichten in jeweils drei Filmbildern (Szene 1 â Szene 3) an. Sie sind einerseits sehr Ă€hnlich, anderseits sehr unterschiedlich.Â
- Arbeite die GrĂŒnde fĂŒr die unterschiedlichen Wirkungen heraus.
Achte dabei auf die Kleidung, die Farbgebung, das Licht, die Position der Kamera und die Ausstattung.
§
Aufgabe
- Sieh dir die Bilder und die Videos in Element 17 an.Â
- Arbeite die Wirkungen der unterschiedlichen EinstellungsgröĂen, der Musikauswahl und der Kameraposition heraus.Â