1. Organspende: Stoff für Argumente

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Urheber: Olga Guryanova

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In ethischen Diskussionen sollten Sie sich nicht auf Ihr reines Bauchgefühl verlassen. Stattdessen ist es gut, wenn Sie Argumente für Ihre Meinung einbringen können. Schon viele Menschen vor Ihnen haben sich Gedanken zu ethischen Dilemmata gemacht, die bis heute schlüssig und zeitgemäß sind. Drei dieser Gedankenmacher finden Sie in diesem Kapitel. Sie haben jeweils eine völlig andere Perspektive auf das menschliche Miteinander: eine pflichtethische, eine utilitaristische und eine mitleidsethische. Ihre Ideen lassen sich auch auf die Organspende anwenden. Sie bieten reichlich Argumente für Ihre eigene Position.

1. Aufgabe: Kant, Bentham und Schopenhauer: ihre Sicht der Dinge

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Aufgabe

Lesen Sie die Einführungstexte und Quellen der drei Philosophen durch. Finden Sie das schlagende Argument für Ihre Position zur Organspende.

Aufgabe

Entnehmen Sie den Quellentexten zwei zusätzliche Argumente für Ihre Position.

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1.1 Immanuel Kant: Pflichtethik

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Immanuel Kant vertritt die Meinung, dass die menschliche Vernunft für eine Handlung entscheidend ist und nicht deren Wirkung. Zudem geht er davon aus, dass der Mensch sittlich gut ist. Dies bedeutet, dass er aufgrund von Prinzipien gut handelt und nicht wegen ihrer Wirkung. Kant war es wichtig, dass Menschen auch völlig losgelöst vom Geschehen zu Entscheidungen kommen können. Die Zustimmung zur Organspende erfolgt nach ihm also intrinsisch und autonom, auch wenn eine Person vielleicht nie als Spender oder Spenderin infrage kommt. 

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Quelle

Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten

Es liegt also der moralische Wert der Handlung nicht in der Wirkung, die daraus erwartet wird, also auch nicht in irgend einem Prinzip der Handlung, welches seinen Bewegungsgrund von dieser erwarteten Wirkung entlehnen bedarf. [...]

Es kann daher nichts anderes als die Vorstellung des Gesetzes an sich selbst, die freilich nur im vernünftigen Wesen stattfindet, sofern sie, nicht aber die verhoffte Wirkung, der Bestimmungsgrund des Willens ist, das so vorzügliche Gute, welches wir sittlich nennen, ausmachen, welches in der Person selbst schon gegenwärtig ist, die danach handelt, nicht aber allererst aus der Wirkung erwartet werden darf. [...]

Da ich den Willen aller Antriebe beraubet habe, die ihm aus der Befolgung irgend eines Gesetzes entspringen könnten, so bleibt nichts als die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt übrig, welche allein dem Willen zum Prinzip dienen soll, d.i. ich soll niemals anders verfahren, als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden.

Kant, Immanuel: „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“. In: Vorländer, Karl (Hg.): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, UTB 1785, Der philosophischen Bibliothek, Band 41, unveränderter Neudruck von Max Edlich, Leipzig 1945 (3. Auflage), S. 19 ff.

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Aufgabe

Wie kommt der Mensch nach Kant zur Handlung? Ordnen Sie die passenden Begriffe den Symbolen per Drag-and-Drop-Funktion zu.

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1.2 Jeremy Bentham: Utilitarismus

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Laut Jeremy Bentham ist die Wirkung einer Handlung entscheidend. Sie sollte darauf abzielen, das Glück der Gemeinschaft zu vermehren. Er vertritt eine Ethik, die sich am Wohl der anderen orientiert. Dies kann sich wiederum auf das eigene Wohl auswirken. Im Hinblick auf Organspende wäre es laut Bentham entscheidend, dass das Glück des Spenders oder der Spenderin und das Glück des Empfängers oder der Empfängerin im Vordergrund stehen. Wenn beide durch den Eingriff gesund blieben bzw. würden, wäre es nach Bentham die richtige Entscheidung.

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Quelle

Jeremy Bentham: Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und der Gesetzgebung

Unter dem Prinzip der Nützlichkeit versteht man jenes Prinzip, wonach jede nützliche Handlung, gleich welcher Art, in dem Maße anerkannt oder abgelehnt wird, wie sie die Eigenschaft zu haben scheint, das Glück derjenigen zu vergrößern oder zu verkleinern, deren Interesse infrage steht [...]. [...]

Unter Nützlichkeit versteht man die Eigenschaft einer Sache, Nutzen, Vorteil, Vergnügen, Gutes oder Glück zu erzeugen [...] oder [...] Unheil, Schmerz, Übel oder Unglück von denjenigen abzuwenden, deren Interesse betrachtet wird: wenn es sich um die Allgemeinheit handelt, dann das Glück der Allgemeinheit; wenn es sich um ein bestimmtes Individuum handelt, dann das Glück dieses Individuums. [...]

Es ergibt keinen Sinn, vom Interesse der Allgemeinheit zu sprechen, ohne zu verstehen, worin das Interesse des Individuums besteht. [...]

Man kann also sagen, dass eine Handlung dem Prinzip der Nützlichkeit entspricht [...], wenn sie eher die Tendenz hat, das Glück der Allgemeinheit zu vergrößern als es zu verringern. [...]

Von einer Handlung, die dem Prinzip der Nützlichkeit entspricht, kann man immer entweder sagen, sie soll getan werden, oder zumindest, dass sie keine Handlung ist, die nicht getan werden sollte [...].

Bentham, Jeremy: An Introduction to the Priniciples of Morals and Legislation, in two Volumes, a new Edition, corrected by the Author, Vol. I, printed for W. Pickering, Lincoln's – Inn Fields; and E. Wilson, Royal Exchange, London 1823, S. 2 ff. Übersetzt von Johannes Grapentin, Digitale Lernwelten.

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1.3 Arthur Schopenhauer: Mitleidsethik

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Arthur Schopenhauer vertritt eine rein deskriptive, d. h. beschreibende Ethik. Für ihn stehen weniger die Prinzipien einer Person im Vordergrund, sondern vielmehr das menschliche Miteinander. Er setzt voraus, dass Menschen einander empathisch wahrnehmen. Deshalb kommt er zu dem Schluss, dass der Mensch ethische Entscheidungen nicht nur aus Egoismus, sondern auch aus Mitleid fällen kann. Das Leid des anderen kann einen Menschen dazu veranlassen, zu handeln. Laut Schopenhauer wäre das Spenden von Organen also allein wegen des Mitleids eines kranken Menschen gegenüber unumgänglich.

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Quelle

Arthur Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral

Wenn nun aber meine Handlung ganz allein des Andern wegen geschehen soll; so muß sein Wohl und Wehe unmittelbar mein Motiv seyn [...]. [...]

Dies aber setzt nothwendig voraus, daß ich bei seinem Wehe als solchem geradezu mitleide, sein Wehe fühle, wie sonst nur meines, und deshalb sein Wohl unmittelbar will, wie sonst nur meines. Dies erfordert aber, daß ich auf irgend eine Weise mit ihm identificirt sei, d.h. daß jener gänzliche Unterschied zwischen mir und jedem Andern, auf welchem gerade mein Egoismus beruht, wenigstens in einem gewissen Grade aufgehoben sei. [...]

Der hier analysirte Vorgang aber ist kein erträumter, oder aus der Luft gegriffener, sondern ein ganz wirklicher, ja, keineswegs seltener: es ist das alltägliche Phänomen des Mitleids, d.h. der ganz unmittelbaren, von allen anderweitigen Rücksichten unabhängigen Theilnahme zunächst am Leiden eines Andern und dadurch an der Verhinderung oder Aufhebung dieses Leidens, als worin zuletzt alle Befriedigung und alles Wohlseyn und Glück besteht. Dieses Mitleid ganz allein ist wirkliche Basis aller freien Gerechtigkeit und aller ächten Menschenliebe. Nur sofern eine Handlung aus ihm entsprungen ist, hat sie moralischen Werth: und jede aus irgend welchen andern Motiven hervorgehende hat keinen.

Schopenhauer, Arthur: „Über die Grundlage der Moral“. In: Frauenstädt, Julius (Hg.): Arthur Schopenhauers sämtliche Werke, 4. Band, F. U. Brockhaus, Leipzig 18912, S. 208 f.

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Aufgabe

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Wenn das Leben zuschlägt ...

Anhand der philosophischen Texte konnten Sie sich reichlich Stoff für eine eigene Position aneignen.

1. Benennen Sie den Ansatz, der Ihnen am überzeugendsten erscheint, und begründen Sie Ihre Wahl.

2. Stellen Sie sich nun vor: Ihr Bruder erkrankt akut und es besteht die Gefahr eines Nierenversagens. Mithilfe der Dialyse kann er nur noch wenige Tage versorgt werden. Sein Leben ist bedroht. Wie ein Test ergeben hat, kommen nur Sie als Organspender oder Organspenderin für eine Niere infrage. Würden Sie Ihrem Bruder eine Niere spenden? Begründen Sie Ihre Meinung.